Warum erschuf Gott den Walfisch?

  

Sagt, gibt es etwas Empörenderes als jene Laster,  denen einst die Sünderinnen und Sünder von Babylon hemmungslos gefrönt haben? Ja! Empörender als alle Orgien an Babylons Ufern waren die Ausschweifungen in den Pfühlen von Ninive. So gross war Gottes Zorn über Ninive, dass er beschloss, diese verworfenste aller Städte vom Antlitz der Erde zu tilgen. Doch vorher noch erweckte Gott den Propheten Jonas, damit er Ninive aufrufe zu Reue und Busse und so der Stadt das göttliche Strafgericht erspare.

Aber haben wir Modernen das Recht, uns zu empören über die Skandale der Alten? Hat Gott nicht viel mehr Grund, uns heute zu zürnen? Zwei Jahrzehnte sind es her, seit die entrüsteten Scheinwerfer empörter Medien endlich hineingeleuchtet haben in jene dunklen Winkel katholischer Klöster und evangelischer Sakristeien, wo sich Dinge zugetragen haben, die selbst den Sünder***innen von Babylon und Ninive die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten.

„Kinderpornos im Pfarrhaus Sankt Josef“ so hat es, wie Wikipedia gewissenhaft festhält, angefangen. Wie es danach weitergegangen ist, dafür braucht keiner von uns mehr Wikipedia. So gross war unser aller sittliche Empörung über den Absturz unserer einst sittenstrengen Kirchen in die Schlünde der Sünde.

Gewiss, fast täglich neu erklingen seither Worte der Reue aus katholischem Bischofsmund, ertönen aus den Mündern evangelischer Ethik-Kommissionen Worte der Gewissensnot und Zerknirschung. Wie  gross muss da heute Gottes Zorn sein, viel grösser als einst sein Zorn über die Sünderinnen und Sünder zu Babylon, zu Ninive.

Dennoch ist ein Unterschied. Damals hat Gott, um die Sünder***innen von Ninive zur Reue aufzurufen, den Propheten Jonas erweckt. Für uns erweckt er nur noch den Soziologen Edgar Wunder von der EKD. Aus Hannover ist er extra nach Berlin gereist, in die Stadt aller Hiobsbotschaften, um von dort, wenn auch in Worten von soziologischer Dürre, die Christenheit aufzuschrecken: Wenden sich doch Jahr für Jahr eine runde Million Christen empört ab von den beiden gefallenen Grosskirchen. Aber bedrückender noch, viel bedrückender ist die Stimmung abgründiger Lustlosigkeit in jener Minderheit, die bisher, allen Skandalen zum Trotz, den Kirchen noch die Treue hält. Fast alle sind sie noch durch die Kindstaufe zur Christenheit gekommen. Gefragt, ob sie jetzt, als Erwachsene, diesen Schritt freiwillig täten, sagen nur noch 39 % ja.

Vor zwanzig Jahren wollten  das noch fast doppelt soviel, nämlich 62 Prozent. Aber garantiert das wirklich, dass es  - wie nun mal in soziologischen Extrapolationen  -  geradlinig auch künftig mit unseren beiden Kirchen immer weiter abwärts geht?

Es könnte ja auch zur Abwechslung wieder einmal aufwärts gehen. Dafür würde es genügen, dass bei uns der Papst noch ein paar so fromme Teenager wie Carlo Acutis als „Influencer Gottes“ heiligspricht, oder dass drüben in Amerika noch ein paar protestantische Apostel wie Charlie Kirk ermordet werden  -  schon zieht es vielleicht eine ganze Generation von Millenials in die Schösse der Kirchen zurück.

Aber zugegeben: Es könnte auch mit einem Mal viel schneller abwärts gehen als soziologisch berechenbar. Unter erfahrenen Kennern kirchlicher Zusammenbrüche wird zur Zeit das sogenannte Walfisch-Syndrom sorgenvoll diskutiert. Walfisch-Herden („Walschulen“ würden Zoologen sagen) haben ja mit Grosskirchen gemein, dass sie gelegentlich in schwere, ja in unheilbare Krisen geraten. Zuerst geht es dann so zu, wie sich das der Soziologe Wunder für die Kirchen vorstellt: geradlinig extrapolierbar von Jahr zu Jahr schwindet die Walfisch-Herde dahin, bis nur noch eine Miniherde durch den weiten Ozean  schlapp dahergeschwommen kommt.

Das ist der fatale Augenblick für das Walfisch-Syndrom. Ist die schwimmende Wal-Community nämlich bis zu einem gewissen Punkt geschwunden, sagen wir mal von achtzig auf zwanzig Wale, so implodiert die Herde. Ob ihr´s glaubt oder nicht, plötzlich ist kein einziger Walfisch mehr da. Betroffen schildert uns Wikipedia, wie  die riesigen Kadaver manchmal hilflos absinken bis auf den  tiefen Grund der Weltmeere.

Wie wenn es mit unseren beiden Grosskirchen ähnlich ginge? Dass sie noch ein paar Jährlein, von der Religionssoziologie aus Hannover wissenschaftlich cool betreut, langsam vor sich hinschwinden, bis mit einem Mal der Punkt erreicht ist, wo die christliche Herde sang- und klanglos implodiert. Besser gesagt: untergeht.

Plötzlich ist nichts und niemand mehr da: Kein Rainer Maria Woelki mehr und, leider, leider, kein Domradio mehr. Spurlos verschwunden auch Annette Kurschus samt ihrer protestantischen Ethik-Kommission. Totenstille im evangelischen „Haus der Stille“. Selbst Hape Kerkeling nicht nur für einmal weg, sondern, leider, leider, für immer. Menschenleer verlassen all die Synodalen Wege und sogar die Holzwege der Katholiken. Selbst Pater Anselm Grüns vielbewunderter Bart, er ist weg, pietätlos abgeschnitten, wir wissen nicht, von wem, vom Teufel selbst vielleicht. Und erst die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage? Gerade diese Heiligen werden vielleicht schneller als erbetet, zusammen mit den beiden Grosskirchen, ihren allerletzten Tag erleben.

So mag es kommen. Wenn denn, all unseren Gebeten zum Trotz, das Walfisch-Syndrom unsere Kirchen heimsucht.  Aber kommt sie denn wirklich, die Heimsuchung? Hoffen lässt uns, wie immer in grosser Gefahr,  ein Blick in die Bibel. Ist doch ein ganzes Buch des Alten Testaments trostreich der Theologie des Walfisches gewidmet.

Jonas eben. Der Prophet, der sich feige dem Auftrag Gottes entziehen wollte, den Sünderinnen und Sündern zu Ninive Gottes Zorn zu verkünden. Zur Strafe befiehlt der Herr einem riesigen Walfisch, das übers Meer fliehende Prophetlein zu verschlingen. Im Bauch des Monstrums besinnt sich Jonas drei Tage und drei Nächte lang. Er bekehrt sich, will nach Ninive  zurück, um die Sünder***innen endlich zu warnen vor Gottes Gericht.  

Doch jetzt das Wichtigste am Buch Jonas: Fortschrittliche katholische Theologen wie Til Magnus Steiner weisen darauf hin, dass sich nicht nur der feige Prophet samt den wüsten Sünder***innen von Ninive bekehrt. Vor allen Dingen bekehrt sich Gott selbst. Er lässt ab von seinem Zorn, nicht nur gegen Ninive, sondern auch gegen seinen Propheten. Nachdem Jonas im Bauch des Walfisches drei Tage lang seine Feigheit bereut hatte, reut auch Gott selber seine Unerbittlichkeit. Er verzeiht Jonas. Barmherzig erteilt er dem Walfisch die göttliche Weisung, den zerknirschten Propheten am rettenden Gestade des Meeres auszuspeien. Zurückzuspeien in Richtung Ninive.

Das ist, für Juden und Christen gleichermassen verpflichtend, die moderne, die fortschrittliche Interpretation des Buches Jonas: Nicht nur von Propheten und Sünder***innen kann Reue verlangt werden, auch der zürnende Gott muss, wo Menschen Reue zeigen, zur liebevollen Umkehr fähig werden. Das ist, vom Theologen Til Magnus Steiner ausgedacht, das wahre Walfisch-Syndrom für uns moderne Christen.

Sind denn unsere Kirchen nicht, viel mehr sogar als einstmals Jonas im Bauch des  Walfisches, erfüllt von Schuld, Reue und Zerknirschung, geloben sie nicht ohne Unterlass   Sühne und Besserung für die, wie soll ich sagen, neuesten Sünden frommen Fleisches. Soll das ewig so weitergehen, ich meine jetzt nicht mit den Sünden, sondern mit der kirchlichen Scham und Reue?

Nein!

Höchste Zeit, dass Gott selber im Sinne moderner Theologie in sich geht, dass er umkehrt und jenem Fluch des unaufhaltsamen Schwundes, der sich als Strafe Gottes auf die Mitgliederzahlen beider Kirchen gesenkt hat, ein barmherziges Ende setzt, erst recht auch dem  drohenden Walfisch-Syndrom.

Jetzt, Brüder, eine gute Nacht! Doch vorher noch, für den allerschlimmsten Fall, ein letzter Blick in die Bibel. Ein christlicher Blick ins Evangelium:

„Fürchte dich nicht, du kleine Herde!“ Lukas 12. Kapitel, Vers 32.