Zeitzeichen - Blick zurück im Zorn

Diesmal ein längerer Blog. Aber die Sache gibt´s her.

Zeitzeichen – Blick zurück im Zorn.

Warum der WDR die Alten loswerden möchte. Warum dies nicht nur töricht ist, sondern auch unrecht. Und wie einer, der von Zeitzeichen zum Alters-Schafott geführt wird, das findet.

Es war im schönen Frühling 1972. Auf jenem schmalen Gang im Funkhaus  Wallrafplatz, wo es damals von Menschen wimmelte, kam Wolf Dieter Ruppel unerwartet auf mich zu. „Mir wird erzählt, dass Sie Mönch gewesen sind, bevor Sie zu uns in den WDR kamen.“ - „Und“, fragte ich zurück, „was waren Sie?“ – „Ich?“, entgegnete Ruppel, „ich war Gabelstaplerfahrer.“ Mönch und Gabelstaplerfahrer, fand er, das passe zusammen. „Wollen Sie nicht mit mir zusammen eine neue Sendung machen?“

Wie aber kam es, dass ich, ein hergelaufener Ausländer, einfach so auf allen Gängen des WDR herumlief? „Hier ist ein Schweizer, der kann Deutsch“, mit diesen Worten hatte mich Hans Götz Oxenius vorgestellt, damals Leiter des „Kulturellen Worts“. Mehr Empfehlung brauchte ich nicht, um als Autor einzusteigen in die edelsten Programme des WDR-Hörfunks: ins damals staatstragende 1. Programm und ins ebenso anspruchsvolle 3. Programm. Noch litt ja der WDR an einem Mangel an Autoren, noch wollten die wenigsten jungen Deutschen überhaupt Journalisten werden. So war ich im WDR hochwillkommen. Nur eines schmälerte mein Erfolgserlebnis: Was ich da machte, war im Grunde altväterischer Bildungsjournalismus. Ich langweilte mich dabei fast schlimmer, als ich mich bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ gelangweilt hätte.

Here comes Wolf Dieter Ruppel. Mit seinem fabelhaften Projekt: Täglich eine Viertelstunde historische Bildung, aber nicht für Bildungsbürger, sondern im Gegenteil „Bildung für die Waschfrau“. Im (damaligen) 2. Programm. Für Pendler im Auto und Hausfrauen in der Küche.

Schon bei meinen ersten Zeitzeichen fühlte ich mich wie ein Nachfahre Homers, wenn er am altgriechischen Lagerfeuer sang: „Nenne mir, Muse, den Mann…“.  Wie der Mönch von Sankt Gallen kam ich mir vor, als ihm das Walthari-Lied gelang: „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit …“

Erzählen dürfen! Geschichten erzählen! Geschichte ganz klassisch als Synthese zwischen dem, was es zu erzählen gibt und der Sprachlust des Erzählers. Wie Homer sein, wie Charles Dickens, als er sich entschloss, nicht für die Londoner Kultursalons zu schreiben, sondern fürs Volk.

Und Ruppel war großzügig. Jeden ließ er machen. Auch jene, die sich nicht an Ruppels Urmodell des O-Töne-Patchworks hielten. Wie zum Beispiel mich oder die bei Hörern damals überaus beliebte Christine Lemmen, die heute so vergessen ist, wie ich es bald sein werde.

Etwas von der Begeisterung, vom aufklärerischen Elan der frühen Zeitzeichen-Macher hat sich auch den frühen Hörern mitgeteilt. Zu einem Erfolg, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte, wurde mir ein in zwei Tagen geschriebenes Zeitzeichen über die Misshandlung König Ludwigs XIV durch seine Ärzte, über das andere später als Titel gesetzt haben „Der König stinkt“. Ruppel hatte mir einen Zettel zugesteckt mit, ich weiss nicht mehr, dem Geburtsdatum oder mit dem Todestag des Sonnenkönigs. Ich fuhr ins Französische Kulturinstitut und sah die vier Bücher über Ludwig XIV durch, die dort in einer Ecke standen. Hängen blieben meine Augen an einem einzigen Kapitel: „Louis et les médecins.“ Mir war sofort klar: Das war es, was jetzt alle hören wollten.

In den deutschen Medien hatte gerade die Entmythologisierung der „Halbgötter in weiss“ begonnen. Der Glaube – in der Medizin so wichtig wie in der Religion – der Glaube an die ärztliche Unfehlbarkeit war erschüttert. Und jetzt das! In Zeitzeichen der fürchterliche Bericht, wie Ludwigs Zahnarzt die Lehrmeinung praktizierte, dem König, gerade ihm, müssten die Zähne allesamt gezogen werden, solange sie noch gesund seien. Wie schließlich noch das große Schlachtmesser einer operierenden Koryphäe erbarmungslos auf den schmerzverkrümmten Hintern des Königs niedersauste.

Reihenweise blieben Autofahrer am Rand der Autobahn stehen. um nicht zu früh im Büro oder auf der Baustelle anzukommen, um nicht auch noch die letzte Monstrosität über Louis et les médecins zu verpassen.

Und Ruppel liess mich machen. Der Beifall der Hörer war ihm wichtiger als sein persönlicher Glaube, in Zeitzeichen müssten alle möglichen historischen Tonbänder („Originaltöne“) abgespielt werden. Doch nur in Fragen der Darstellung war er so großzügig.

Wirtschaftlich war das Zeitzeichen der Gründerjahre ein frühkapitalistisches Startup mitten im öffentlich-rechtlichen WDR. 300 Mark bekamen die Autoren für ein Zeitzeichen. Nicht einmal „Autoren“ durften sie sich nennen, sondern nur „Presenter“. Ruppel selber aber kumulierte als Chef so viele Honorare, dass den WDR-Granden schließlich schwindelig wurde: „Herr Ruppel, wir müssen Sie fest anstellen. Als Freier verdienen Sie zu viel.“

So begann die Domestizierung des Startups Zeitzeichen zu jenem Format, das sich ein halbes Jahrhundert im WDR halten wird: Drei festangestellte Redakteure, darum ein Schwarm von „freien“ Autoren aus jenem, um mit Karl Marx zu sprechen, frei verfügbaren „Lumpenproletariat“, wie es sich einst um die Häfen der Kölner Südstadt drängte und jetzt um den WDR.

Eins ist im WDR wie in der katholischen Kirche: Es gibt da Zeiten der Blüte, aber sie sind kurz. Und es gibt da Zeiten des Niedergangs, aber sie sind lang. Leicht erkennbar sind die Zeiten des Niedergangs nicht, nennt sich der Niedergang doch selber meistens „Reform“. Über ein halbes Jahrhundert bin ich Autor bei Zeitzeichen gewesen. Kriege ich sie noch auf die Reihe, alle die „Reformen“, die ich in der Zeit erlebt habe?

Die erste Reform war schon die schlimmste. Gross und beliebt geworden war Zeitzeichen im damaligen 2. Programm, der Sendung fürs Volk. Jetzt aber wollte der WDR höher hinaus: Aus seinen drei Programmen sollten fünf werden. Womit das 5. füllen, ein, unter uns gesagt, eigentlich zum 3. hinzu eher überflüssiges Kulturprogramm? „Herr Ruppel, kommen Sie ins neue Kulturprogramm. Mit Zeitzeichen können Sie das Zugpferd des 5. Programms werden!“ So viel größer war WDRintern das Prestige eines Redakteurs „der Kultur“, dass es Ruppel erging wie nebenan jenem Domherrn: „Das ist eine Versuchung, sprach der Domherr, und erlag ihr.“

Während das Prestige des redaktionellen Dreigestirns hausintern in kulturelle Höhen stieg, schmolz hausextern die Zahl der Hörer von der plebejischen halben Million im 2. Programm ab in jene kulturüblich winzigen Zahlen, für die es Trost nur im Evangelium nach Lukas gibt: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde!“.

Leider wurden es nicht nur weniger, sondern vor allem andere Hörer. Hörer, die nicht ihre plebejischen Ohren nach historischen Sensationen spitzten, sondern gebildete Hörer, wissende. Zeitzeichen wurde was es seither ist: Nicht mehr Bildung für die Waschfrau, sondern im 5. und 3. Programm, Bildung für die Gebildeten. Bildung für die Wissenden. Ich bekam es zu spüren, als „Ludwig und die Ärzte“ eines Tages wiederholt wurde. Da rief jetzt gleich ein Professor für Zahnmedizin an und korrigierte mich triumphierend: „Sie behaupten, Ludwig seien in einem einzigen Mal sämtliche Zähne gezogen worden. Mir liegt das Original des königlichen Operationsberichts vor: Es waren nicht alle Zähne! Ein Zahn wurde vergessen und blieb ganz allein stehen. Das müssen Sie richtigstellen!“

Lieber gleich zur nächsten Reform. Kultur hat etwas mit Orten zu tun. Sie braucht einen lieu naturel. Mitten in Köln, gleich neben dem Dom und umgeben von römischen Ruinen, hatte Zeitzeichen seinen idealen Ort. Jetzt aber, nach Ruppels Abgang, gebar die Leitung des Hauses die große Reformidee: Die Zeitzeichen-Redaktion wurde verschoben ins Studio Dortmund. Die WDR-Führung versprach sich davon die bei solchen Reformen allerwärts vielgerühmten „Synergie-Effekte“.

Dass die Synergie nicht zum Fiasko wurde, war einem menschlichen Umstand zu verdanken, der mit Radio und mit Kultur nichts zu tun hatte, dafür aber etwas mit dem Ruhrgebiet. In Dortmund gibt es weniger Historie als in Köln, dafür umso mehr Sport. Ronald Feisel, neuestens Zeitzeichen-Chef, war längstens schon Coach einer Handballmannschaft an der Ruhr. Wie man eine Handballmannschaft zusammenhält, so gelang es ihm, den heterogenen Haufen der aus Köln mitgebrachten Autoren zusammenzuhalten.

Wundersam kam mir das zugute, als ich schwer erkrankte. Weder reden noch gehen konnte ich mehr, verschwand für lange Monate auf Intensivstationen und in Kliniken. Besser als die Ärzte, halt so wie ein erfahrener Handballtrainer um seine Spieler, hat sich Ronald Feisel um mich gekümmert. Hat meiner Frau so beherzt Mut zugesprochen, als wär´s die Frau eines schwer verletzten Spielers.

Doch jetzt zur allerletzten Reform. Sie ist noch im Gange.

In alternden Institutionen wie dem Erzbistum Köln oder dem Westdeutschen Rundfunk pflegt sich die interne Struktur so zu verkomplizieren, zu verfilzen und zu verstopfen, dass nur wenige noch durchblicken. Einer ist da schon auf den Gedanken gekommen, ein hilfreiches „WDR-Dschungelbuch“ zu veröffentlichen. Zu den wenigen, denen neidlos zugestanden werden muss, dass sie sich in dieser bürokratischen Wildnis so etwas wie Überblick bewahrt haben, gehört der Personalchef des Hauses, Kurt Schumacher, 58.

Wir wollen jetzt nicht lange darüber sinnieren, dass Schumacher in jenem schwierigen Alter ist, in dem, laut Professor Parkinson, alternde Chefs keine Gleichaltrigen oder gar Älteren mehr um sich haben wollen, dafür aber den jüngeren Nachwuchs großzügig fördern. Vor einem Jahr teilte Sch. dem ganzen Haus per Video-Schalte mit, es sei jetzt so weit, dass er wohl bald alle Redaktionen zwingen müsse, ihren Bestand an Freien Mitarbeiter zu verjüngen.

Was bereitet Sch. solche Sorgen? Sein Albtraum sind die viel zu vielen Babyboomer im WDR. Zum besseren Verständnis: Unter „Babyboomern“ versteht man jene Jahrgänge, in denen – kaum noch vorstellbar – zu viele deutsche Babys auf die Welt kamen. Gott allein weiß, warum von diesen viel zu vielen Babys noch einmal viel zu viele in den WDR gelangt sind. An dieser Stelle unseres Gedankengangs würde jetzt ein amerikanischer Journalist schreiben: „But there is hope.“ Die meisten Babyboomer kommen nämlich gerade ins Rentenalter. Sind sie einmal 67, so ist der WDR sie alle los.

Alle? Nein. Ausdrücklich hält das Arbeitsrecht fest, dass es für die Beschäftigung Freier Mitarbeiter keine Altersgrenze gibt. Der WDR hat aber unter seinen viel zu vielen Babyboomern leider auch noch viel zu viele Freie Mitarbeiter. Ein krasses Beispiel sind die vielen freien Autoren bei Zeitzeichen. Punktgenau zum 67. Geburtstagsfest werden sie jetzt alle rausgeschmissen.

Aber ist es nicht, im WDR wie anderswo, nötig und wichtig, dass die Alten Platz machen für die Jungen? Darüber haben wir uns schon in der Dortmunder Redaktion offen unterhalten. Zusammen mit dem Chef-Redakteur Ronald Feisel habe ich damals beschlossen, auf meine alten Tage nur noch einmal im Quartal ein Zeitzeichen machen, um so keinem Jungen etwas wegzunehmen. Sagt, gibt es einen humaneren Übergang zwischen den Generationen?

Doch jetzt zum zweiten Albtraum des Personalchefs. Mit manchen seiner Formate, so auch mit Zeitzeichen, ist der WDR zurückgefallen in der Konkurrenz mit den neuen privaten History-Podcasts, aber auch mit der „Einen Stunde History“ des nahen Deutschlandfunks. Wie die verlorene pole position zurückgewinnen? Am einfachsten durch eine verwegene Personalrochade: Babyboomer raus, Generation Z rein!

Als öffentlich-rechtlicher Personalchef hat Sch. vielleicht zu wenig Kontakt zu den Personalchefs der freien Wirtschaft. Die hätten ihn längst warnen können vor der Generation Z. Noch ist sie da, die arbeitswütige Baby-Generation. Die Generation Z ist das Gegenteil. Sie „chillt“. Mit „chillen“ sind aber nicht viele Zeitzeichen zu machen. Vor allem ist mit „chillen“ keine verlorengegangene pole position zurückzugewinnen.

But there is hope: Die arbeitswütigen Babyboomer bei Zeitzeichen wehren sich gegen die Alters-Guillotine. Eines ihrer starken Argumente: Wie kann einer die Baby-Generation rausschmeißen wollen, solange noch die Einmann-Generation Methusalem bei Zeitzeichen mitmachen darf: Hans Conrad Zander, Jahrgang 1937.

Jetzt ging es im WDR zu wie in einem Kölner Finanzamt. Heikle Dinge werden dort nicht schriftlich erledigt, auch nicht mündlich, sondern fernmündlich. So kam ich wie die Babyboomer in den Genuss eines telephonischen „Perspektiv-Gesprächs“. Zum Trost dürfe ich 2025 noch ein einziges Zeitzeichen machen. Ab 2026 aber bekomme ich meines Alters wegen Schreib- und Redeverbot für den gesamten WDR.

Kurt Sch. selbst bekam ich so wenig zu hören wie ich ihn je gesehen habe. Seine Vorstellung, er sei für mich zuständig, ist ohnehin eine unhaltbare Grenzüberschreitung. Nehmen wir einmal an, ich stünde vor dem Baumarkt in Köln-Zollstock, böte dort halbe Hähnchen feil und ein Herr Sch. käme zu mir, um ein halbes Hähnchen zu kaufen. Er dürfte mir alle Fragen stellen zu meinen halben Hähnchen. Auf keinen Fall dürfte er mich aber fragen nach meinem Geburtstag. Und dann verlangen, dass ihm an meiner Stelle einer aus der Generation Z das halbe Hähnchen grille. Er ist ja nicht mein Chef, sondern mein Kunde.

Vom Verkäufer halber Hähnchen zum Autor ist noch einmal ein Schritt. Ich war ebenso jung, wie es die Generation Z jetzt ist, als ich im Telephonbuch von Strassburg den Eintrag des elsässischen Satirikers Germain Muller suchte. Da stand er! Und er war denkbar kurz: „Germain Muller, auteur“. Auf der Stelle empfand ich hohe Achtung. Autor ist mehr als ein Brotberuf. Auch heute noch, auch noch im WDR kann er nicht enden par ordre de moufti am Tag, an dem andere „in Rente gehen“.

Solches geschieht zu Köln am Rhein, während die Regierung aus Berlin den Alten im ganzen Land zuredet, nicht mit 67 aufzuhören, sondern freiwillig länger zu arbeiten. Recht hat sie für einmal, die Regierung in Berlin, Selbst in der preussischen Verwaltung sprachen ja manche nicht schönend vom „Ruhestand“, sondern realistisch vom „Pensionstod“. Und erst die Pioniere des schweizerischen Journalismus, die Redakteure der zahllosen örtlichen Tageszeitungen. Ruhestand? An der Schreibmaschine ist ihr Leben zu Ende gegangen, in hohen Jahren. „Und nicht plötzlich bricht das Leben ab, sondern die Länge der Zeit löscht es aus“ (Cicero de senectute).

Warum tut es mir weh, aus Zeitzeichen fernmündlich cool eliminiert zu werden? Ich komme aus einem schweizerischen Provinzgymnasium, in dem Griechisch und Latein noch die wichtigsten Sprachen waren und Geschichte so vermittelt wurde, wie vordem von Jacob Burckhardt in der humanistischen Tradition der Universität Basel. Jetzt wollen mir die Erinnyen  nicht aus dem Sinn.

Wer mit alten Menschen rücksichtslos umgeht, davon waren die Griechen überzeugt, begeht eine solche Barbarei, dass die Erinnyen, die schwarzen Rachegöttinnen, strafend über ihn herfallen werden. Ob jene, die jetzt im WDR die Autoren des Zeitzeichens exakt zum 67. Geburtstag zur Alters-Guillotine verurteilen, ob die jemals etwas von antiken Rachegöttinnen gehört haben?

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So lange noch eine Erinnye lebt, eines Tages wird sie erbarmungslos über euch herfallen. Nicht jetzt, sondern erst, wenn auch ihr, nur ein paar Jahre nach mir, alt geworden seid.

Aus:  https://www.hansconradzander.com/le-blog

Paula, nimm den Stahlhelm ab!

 „Mami!“ schrie mein Schwesterlein, „Mami, wie siehst du aus!“  - „Mami“, schrie ich so laut, wie ein kleiner Knabe schreien kann, „Mami, was haben sie mit dir gemacht!“

 Das war in Zürich mitten in den Kriegsjahren. Wie irgendeine normale Hausfrau, so hatte meine Mutter die Wohnung verlassen: mit einer neugewellten Dauerwelle und im schicken Deux-Pièces. Wie aber war sie jetzt heimgekehrt! Die schöne Dauerwelle plattgedrückt durch einen schweren Stahlhelm, das schicke Deux-Pièces verschwunden hinter einer Art knöchellangem Metzgerschurz. Und warum war sie so ausser Atem? Wir wohnten im zweiten Stock. Einen schweren Kübel voll Sand hatte sie hochtragen müssen und einen Besen dazu. Wozu Sand und Besen? „Das löscht besser als Wasser, hat man uns heute erklärt.“

Irgendeinem in der schweizerischen Armeeführung war aufgefallen, dass noch nicht alle ihren Beitrag leisteten zur Landesverteidigung. Hausfrauen vor allem waren von der Mobilisierung noch nicht erfasst. Jetzt aber war auch meine Mutter einberufen worden zum Einsatz für das, was man damals, wenn ich mich recht erinnere. „Zivilschutz“ nannte.

Warum komme ich drauf? Nicht von selber. Professor Hurrelmann hat mich draufgebracht. Der weltberühmte deutsche Soziologe hat öffentlich Stellung bezogen zur Diskussion um Deutschlands neue „Kriegstüchtigkeit“. Sind doch fast alle militärischen Experten der Meinung, dass der Russe nur darauf wartet, uns möglichst bald anzugreifen. Und so verlangen sie von der Jugend mehr  „Kriegstüchtigkeit“.

Zeit, dass Professor Hurrelmann klug und mutig widerspricht. Als Jugendforscher weiss er, wie wenig belastbar die Generation Z ist. Am liebsten „chillt“ sie. „Smombies“ (von Smartphone) werden sie genannt. Manche sprechen auch schon von der „Generation Schneeflocke“. Weil Schneeflocken sich so leicht auflösen. Soll Deutscland wirklich kriegstüchtig werden, so ist auf die Schneeflocken kein Verlass. Professor Hurrelmann, selber 82, weiss Rat: die Rentner müssen ran! Noch sind die Rentner nicht einmal militärisch erfasst. Kaum sind sie verrentet, liegen sie faul herum an südlichen Stränden. „Mit 65 - oder oft genug schon mit 63 - sind die Leute plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen. Was ist denn das für ein Konzept?" fragt streng Professor Hurrelmann.

Ist das ein Vorbild für die Jugend? Ist das ein Beitrag zu Deutschlands Kriegstüchtigkeit? Professor Hurrelmann fordert ein Jahr „Pflichtdienst“ für Rentner.

Da kommt eine grosse neue Aufgabe auf Jens Spahn zu: Gut 20 Millionen Menschen gehören, Mann und Weib, zur Rentnergeneration. Sie müssen nicht nur eingezogen, sondern auch kriegstüchtig ausgerüstet werden. Bestellen Sie, verehrter Spahn, als erstes bei Ihren Lieferanten in der Schweiz 20 Millionen Stahlhelme für Senioren!

Und alle, alle werden sie zurückkommen: aus Tailand, aus den Philippinen, aus Florida und aus Kalifornien, von den Kanaren, von den Balearen. Sie werden, der Jugend ein Vorbild, im Pflichtdienst Schützengräben ausheben, werden von der Oder rückwärts bis zum Kanzleramt gegen die russischen Panzer  vielzackige Toblerone-Stolperlinien errichten. Allen voran, furchtlos dem Russen die Stirn bietend, Angela Merkel, die Mutter der Nation, im Stahlhelm.

Bis endlich, irgendwo zwischen Oder und Rhein einer doch aufsteht und jenes Wort der Vernunft spricht, mit dem damals ein Familienvater der Kriegshysterie  in einer Dreizimmer-Wohnung in Zürich ein Ende gesetzt hat: „Paula, nimm den Stahlhelm ab! Und Kinder marsch ins Bett!“

Kleine Lina, du bist Afghanin, ob du willst oder nicht.

Ein Streit tobt durch die sozialen Medien: Lina Heider, das blendend gescheite Mädchen aus Bonn, das mit elf schon das Abitur bestanden hat, ist sie ein Flüchtlingskind aus Afghanistan oder ist sie Bio-Deutsche?

Dass sie ein Flüchtlingskind aus Afghanistan sei, sogar, genauer gesagt, aus dem bös diskriminierten Hazara-Stamm, das hat zuerst der einflussreiche deutsch-islamische Influencer Tarek Baé behauptet. Doch dann ist das ZDF nach Bonn gefahren, hat bei Heiders solange geklingelt, bis Linas verstörte Eltern herauskamen: Nein, sie seien nicht aus Afghanistan, schon gar keine Flüchtlinge und ihr hochintelligentes Mädchen kein Hazara-Sprössling. Im übrigen möge man sie in Ruhe lassen.

Was jetzt?

Tarek Baé scheint unsicher geworden zu sein. Obwohl ich als katholischer Influencer lange nicht so viele deutsche Follower habe wie Tarek Baé als muslimischer Influencer, fühle ich mich verpflichtet, ihm theologisch zu Hilfe zu kommen.Dabei stütze ich mich auf Duns Scotus, den fortschrittlichsten Theologen des späten Mittelalters in Köln.

Ihn hat die Frage beschäftigt, ob die Unbefleckte Empfängnis ein dogma sanum et catholicum sei, oder, wie andere in Köln damals noch zu behaupten wagten, abergläubischer Unsinn. Um zu einem unwiderlegbaren Schluss zu kommen, entwickelte Duns Scotus einen theologischen Dreisatz: „decuit, potuit, ergo fecit.“ Das heisst auf deutsch: Die Unbefleckte Empfängnis ist etwas Schönes (decuit), Gott konnte es machen (potuit), also hat er es getan („fecit“)

Kein vernünftiger Mensch wird jetzt den wüsten Streit um die Unbefleckte Empfängnis neu lostreten wollen, wohl aber lohnt es sich, den spätmittelalterlichen Dreisatz auf die liebe kleine Lina Heider anzuwenden. „Decuit“: Was für eine schöne Sache ist es doch, dass Deutschlands intelligentestes Mädchen ein Flüchtlingskind ist, und erst noch aus Afghanistan! Allem rechten Hass und aller rechten Hetze gegen unsere Mitbürger***innen mit Migrationshintergrund setzt das ein Ende. „Potuit:“ Die göttliche Vorsehung konnte es genau so einrichten. „Ergo fecit“: Also ist es so. Und keiner braucht, um es zu leugnen, ungebeten an einer Bonner Haustür zu klingeln. Dir aber, schöne, hochintelligente Abiturientin aus Bonn, sei es ganz persönlich gesagt:

„Kleine Lina, theologisch bist du ein Flüchtlingskind aus Afghanistan, ob du willst oder nicht.!“

Schade! Schade!

Jammerschade! dass es der Kölner Stadtverwaltung nicht gelungen ist, die 700 vergammelten Kölner „Spielplätze“ umzutaufen in 700  pfiffige, flotte „Spiel- und Aktions-Flächen“. Wie wird es jetzt weitergehen? Kann es überhaupt noch weitergehen zu Köln am Rhein?

Ja!

Wo der Staat versagt, da muss die Kirche beispielhaft vorangehen. Woran liegt es denn, dass unzähligen Reformen zum Trotz immer weniger Kölner*innen noch zur Kirche gehen? Ja sogar, Gott sei´s geklagt, immer mehr Kölner*innen aus der Kirche austreten? Es kann nur daran liegen, dass wir noch immer so rückständig sind, so phantasielos, unsere Kirchen „Kirchen“ zu nennen. Dabei haben wir doch grossartige Erfahrungen damit gemacht, ein anderes altbackenes Wort der Frömmigkeit zu modernisieren. Als niemand mehr zur „Abendandacht“ wollte, haben woke Kölner Kirchenmusiker angefangen, die Jugend der Stadt zum „Evensong“ zu rufen. Und alle, alle kamen.

Noch mehr werden kommen, wenn es uns gelingt, den altmodischen  Begriff „Kirche“ zu ersetzen durch ein neues flottes, pfiffiges Wort. Aber gibt es denn ein angloamerikanisches Wort, das besser klingt als Kirche? „Church“ sicher nicht, das klingt nach Queen Mum. Aus der generation Z kommt der Vorschlag, die Kirchen umzuwidmen in „chilling points“. Mir wäre ein generationenübergreifender Begriff lieber. Wie wär´s mit „hub“? Alte Christen kennen dieses Wort schon, weil sie auf ihren Flügen um die Welt im hub von Dubai umsteigen mussten. Die jüngeren Christen sind auf ihren abenteuerlichen Streifzügen durchs Internet alle schon mal auf Porn Hub gelandet. Schrecken sollte uns das nicht. Haben nicht auch nach dem Dreissigjähren Krieg die Jesuiten das verwahrlosten schlesische Volk wieder in die Kirchen gelockt, indem sie gängige Porno-Schlager mit frommen Texten unterlegten? Um uns ein bisschen abzusetzen von Porn Hub liegt ein schönes Adjektiv nahe: Statt „Kirche“ künftig „mystical hub“. Nimm am Sonntagmorgen deinen Enkel am Händchen: „Komm Noah! wir gehen zusammen zum Eucharist im mystical hub!“.

Und erst der Kölner Dom!

Millionenfach wird aus allen Kontinenten die Jugend der Welt zum Altar der Heiligen Drei Könige drängen, sobald sie umgetauft sind zu „Three High Cologne Spiritual Masters“ und ihre Gebeine nicht mehr in Kaiser Wilhelms altbackenem Dom liegen,  sondern im neuen „Cologne Premium High Spiritual Hub“.

Kann ein Ehemann heilig werden?

 

Ein  alter französischer Dominikaner war er, knochig und hager noch in seinen letzten Jahren, als ich ihn kennenlernte. Was hatte er so im Leben getan? Beichtvater war er gewesen auf einem grossen Stützpunkt für Fallschirmjäger. Ob er da wohl viel zu tun hatte? Ich kann mir ja nicht vorstellen, dass Fallschirmjäger viel im Beichtstuhl knien. „Die Fallschirmjäger nicht“, meinte er trocken, „aber ihre Ehefrauen schon.“

Was hat die Ehefrau eines Fallschirmjägers zu beichten?

„Das geht Sie nichts an!“ Sünden seien ohnehin etwas besonders Langweiliges, interessanter sei, was man so nebenbei erfahre, vor oder nach dem Sündenbekenntnis: „Herr Pater, Ihnen allein kann ich es sagen, was ich noch niemandem anvertraut habe: Mein Mann ist komisch geworden. Offen gesagt: Mein Mann spinnt.“

Das habe er so oft hören müssen, dass er jetzt meine, alle Ehefrauen seien spätestens nach ein paar Jahren Ehe überzeugt, dass ihr Mann spinne. Alle Ehefrauen? Nein, das wäre ein Vorurteil – gegen die Frauen. Von Zeit zu Zeit sei auch eine in seinen Beichtstuhl gekommen, die das Gegenteil gesagt hat: „Ihnen darf ich es anvertrauen, Herr Pater, Ihnen ganz allein: Mein Mann ist ein Heiliger!“

Ich komme drauf, weil in der Vatikanischen Kongregation für Heiligsprechungen schon wieder etwas  los ist. Gerade ist es gelungen, mit Carlo Acutis einen fünfzehnjährigen Computerfreak zur Ehre moderner Altäre zu erheben. Jetzt scheint der Vatikan zu einem zweiten Coup modernisierter Heiligkeit entschlossen. Statt lauter Mönchen, Nonnen und Päpsten, gilt es, endlich einen modernen Ehemann beispielhaft heiligzusprechen. Zwei hat Rom im Visier: Karl, den letzten Kaiser von Österreich, und Baudouin, den verstorbenen König von Belgien. Warum nun ausgerechnet zwei Monarchen in barock prangenden Uniformen  als Vorbilder moderner Heiligkeit?

Wer diese Frage stellt, scheint nicht zu wissen, was für ein aufwendiges Verfahren eine Heiligsprechung ist. Dass bisher vor allem Mönche und Nonnen heiliggesprochen wurden, erklärt sich leicht. Man braucht dafür einen  Apparat, wie ihn nur die grossen Orden haben, vor allem in Rom einen möglichst gut vernetzten Postulator, ohne den die Heiligsprechung nicht vorankommt. Und dann alle die Honorare für medizinische Gutachten zur Bestätigung der Wunder, Aufwandsentschädigungen für Zeugen, vor allem aber die unzähligen winzigen Gebühren und Taxen im Papierkrieg des vatikanischen Alltags. Nur die ganz grossen Orden konnten sich diesen Aufwand bisher leisten.

Wenn nun ein Ehemann heiliggesprochen werden soll, so muss die Witwe, die das Verfahren anstrengt, sie ganz allein, so gut vernetzt und so gut betucht sein wie, sagen wir mal, der ganze Jesuitenorden. Das trifft auf jeden Fall zu für Zita Maria delle Grazie Adelgonda Micaela Raffaela Gabriella Giuseppina Antonia Luisa Agnese von Bourbon-Parma selig, die fürchtenswerte Witwe Karls, des letzten Kaisers von Österreich. Und sonst noch? Höchstens noch Doña Fabiola Fernanda María de las Victorias Antonia Adelaida de Mora y Aragón selig, die ungewöhnliche Witwe König Baudouins von Belgien.

Doch da ist ein Nachteil: Wo solche Witwen die Heiligkeit ihrer Gatten bezeugen, wird Widerspruch  fast unmöglich. Das muss der Grund sein, warum dem Vatikan, um diese beiden Heiligsprechugen durchzuziehen, eines noch schmerzlich fehlt: ein advocatus diaboli, der vorgeschriebene „Anwalt des Teufels“, der alle Argumente sammelt, die bis zum letzten Augenblick noch die Heiligsprechung sabotieren können.

Wenigstens im Falle König Baudouins stehe ich dem Vatikan als advocatus diaboli honorarfrei zur Verfügung. Die Vorsehung hat es gefügt, dass ich im Jahr 1959 zufällig in Lüttich war, als sich dort mit König Baudouin ein leider vergessener Zwischenfall zutrug,

Zu den vornehmsten Pflichten belgischer Monarchen gehört ein Antrittsbesuch in der „Cité ardente“, in der ruhmreichen Stadt Lüttich. Um seine Verbundenheit mit allen Untertanen, auch mit den schwächsten, zu demonstrieren, ehrte Baudouin diesmal mit seinem Besuch nicht nur die Honoratioren im Rathaus, sondern auch die Insassen einer nahen psychiatrischen Anstalt. Die mitreisenden Medien lobten alle  die zwanglose Art, wie der König mit den Menschen dort  ins Gespräch zu kommen wusste. Doch dann nahte der fatale Augenblick, in dem ein Patient begann, ihm von sich aus Fragen zu stellen: „Wie heissest du?“ Wahrheitsgemäss gab er zur Antwort: „Ich heisse Baudouin.“ Dann eine zweite Frage: „Und was tust du so im Leben?“ Wieder die wahrheitsgemässe Antwort: „Ich bin der König von Belgien.“

„Oioioioioi, oioioioioi, wenn das so ist, dann muss ich dir leider sagen, dass du kaum eine Chance hast, hier so bald wieder rauszukommen.“

Sollte Baudouin jetzt heiliggesprochen werden, fürchte ich als advocatus diaboli einen irreparablen collateral damage in Amerika. Auch Donald Trump liebt ja den leutseligen Umgang mit  seinen Untertanen. Nächstens kommt er auf den Gedanken, ein entsprechendes Etablissement in der Nähe von Mar-al-Lago zu besuchen. Wenn ihn dann dort einer fragt: „Wie heissest du?“ was kann er da anderes sagen als: „Ich bin der Donald.“ Und wenn dann noch die Frage folgt: „Was tust du so im Leben?“ Was soll er da wahrheitsgemäss anderes antworten als „Ich war und bin schon wieder Präsident der Vereinigten Staaten.“

Oioioioioi! Da muss ich dir leider sagen, dass du kaum eine Chance hast, hier jemals  wieder rauszukommen!

Warum ich Mormone werde.

Ja, ich werde Mormone. Lange schon ist der Entschluss in mir gereift. Jetzt steht er fest. Warum? Vor zwei Wochen hat Rom einen neuen Papst gewählt. Jetzt kann ich es nicht mehr lesen, nicht mehr sehen, nicht mehr hören. Jetzt halte ich es einfach nicht mehr aus: nicht den neuen Papst selbst, sondern, völlig gleich in allen Medien der Welt, die allgemeine Einschätzung seiner Wahl.   Einer sagt es lauter, unterstreicht es dicker als der andere und jeder ohne Ende: Papst Leo XIV gebietet über 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken.  Als wäre er selber ihnen als Person viel zu unscheinbar, viel zu bescheiden, so viel bescheidener als sein Vorgänger jedenfalls, blähen sie alle den kleinen, schmächtigen Pater aus den Vorstädten von Chicago gigantisch auf, indem sie nicht müde werden zu betonen, dass er über 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken thront. Ohne Unterlass diese 1,4 Milliarden! 

Dagegen die Mormonen? Auf der ganzen weitenWelt, bis hinein in die missionsreifen Urwälder Brasiliens, gibt es kaum 16 Millionen Mormonen. Dass - was viele nicht zu wissen scheinen - der heilige Stifter dieser Glaubensgemeinschaft ein fröhlicher kölscher Jung namens Jupp Schmitz war; dass, wie ich zuletzt wieder aus amerikanischen Fernseh-Serien erfahren durfte, „mormonische Hausfrauen“ von  besonders aufregenden erotischen Erfahrungen zu erzählen wissen, das alles ist mir nicht unwichtig. Der dramatische Grund aber für meine Konversion ist der Überdruss über den global so  endlos und so wichtigtuerisch breitgetretenen Fetischismus von den 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken.

Was aber wird jetzt, wenn ich nach Salt Lake City ziehe, aus Leo XIV in Rom?  Aus meinem  Leo? Aus diesem Papst, der mir persönlich so viel besser gefällt als alle die acht Päpste, die ich zuvor erlebt habe? Leo, mit seiner ansteckend  unbekümmerten Bescheidenheit? Leo, der mit seinem kindlich fröhlichen Entenschnäbelchen, kaum war er gewählt  – und fast fehlerfrei – gleich Salve Regina sang? Endlich wieder einmal ein Papst, der anders als sein Vorgänger überhaupt singt: „jesuita non cantat“. Mit ihm, der sich sofort in mein Herz gesungen hat, was mache ich mit meinem Papst Leo XIV bei den Mormonen?

Ganz einfach: Diesen Leo, den nehme ich mit nach Salt Lake City. Ihm als US-Amerikaner wird es ohnehin leichter fallen als mir, sich in Utahs herber Wüstenluft zu akklimatisieren. Allzu gerne wird er mitkommen, sobald er einmal bis in die innersten Knochen zu spüren bekommen hat, was für ein unchristlicher Stress das ist, Papst in Rom zu sein über 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken. Schlimmer noch, schlimmer wäre nur ein Papst in Mekka hoch über den 1,9 Milliarden Musliminnen und Muslimen.

Dort  aber, hoch in den stillen, wunderbar einsamen Bergen Utahs, wird in Leo die Erkenntnis reifen, die Jesus Christus, wenn ich mich recht erinnere, auf den Satz gebracht hat: „Nicht wo unablässig Milliarden den Mund voll haben von Milliarden, sondern dort, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“

Matthäus 28. Kapitel, 20. Vers.

habemus papessam!

Wenn in ein paar Tagen von der Loggia des Petersdoms in alle Welt der Ruf erschallt „habemus papam“,  dann ist eines sicher: dass wir nicht nur einen Papst in Rom haben, sondern auch, ja schon vorher, eine Gegenpäpstin im Weissen Haus in Washington.

Dort regiert sie seit dem 7. Februar, dem Tag, an dem Donald Trump sie feierlich eingesetzt hat als Leiterin des „White House Faith Office“, des neuen „Glaubens-Büros“, das, dem Präsidenten, ihm allein, unmittelbar unterstellt, der bisherigen „Diskriminierung der Christen“ in Schulen, Universitäten, Streitkräften, Gerichten und Behörden aller Art ein schleuniges Ende bereiten soll.

Paula White ist ihr Name. In Mississippi am 20. April 1966 zur Welt gekommen ist sie heute eine der tonangebenden amerikanischen Televangelist***innen.  Sie gehört zum engsten Kreis bibelgläubiger Christen um den afroamerikanischen Erzbischof Nicholas Duncan-Williams. Gross ist ihr Einfluss auf den „Young Woman´s Leadership Summit“. Mit finanziellen Engpässen mag es zusammenhängen, dass sie zeitweise „7 übernatürliche Segnungen“ zum Aktionspreis von tausend Dollars vertrieben hat. Auch ihre eigene Kirchengründung, die „Without Walls Central Church,ging 2011 pleite. In dritter Ehe ist sie zur Zeit verheiratet mit Jonathan Cain, dem  beliebten Keyboarder der Rockband Journey.

Das ist natürlich alles andere als das Profil der Kardinäle im neuesten römischen Konklave. Aber es ist der ganz normale Typ der protestantischen amerikanischen Geschäftsfrau und Fernseh-Prediger***in. Was predigt uns die neue Gegenpäpstin?

Sie predigt ein neues Evangelium, das den alten Jesuiten im Vatikan so gefährlich scheint, dass sie ihm dieser Tage im Osservatore Romano einen Verriss fast von Buchlänge gewidmet haben. Sie hätten es auch kürzer und ohne Verriss sagen können: Hier ersteht im 21. Jahrhundert aus dem16. Jahrhundert neu der alte Calvinismus: der Glaube, dass Gott denen, die er liebt, als Zeichen göttlicher Gunst Geld schenkt. Viel Geld. Allerdings ist das jetzt Calvinismus nicht mehr pur, sondern angereichert mit allerhand neuer Positive-thinking-Psychologie: Schliesse auch du wie einst die alten Juden deinen eigenen Bund der Treue mit Gott, einen individuellen Psycho-Bund diesmal, und Gott wird seinerseits der göttlichen Verheissung individueller irdischer prosperity treu sein.

Das predigen nun allerdings Dutzende von Televangelists. Halb Amerika glaubt daran. Elektronisch weiter übertragen wird das prosperity gospel in die halbe Welt: nach Süd-Korea, nach Ghana, nach Nigeria, nach Mexiko, nach Argentinien und Chile. Und wenn man euch erzählt, dass halb Brasilien „protestantischen Sekten“ verfallen sei, dann glaubt das nicht. Das sind keine „Sekten“ im abwertenden deutschen Wortsinn, sondern dynamische junge Christ***innen, die sich nicht mehr mit der alten Liebe des Vatikans zu den Armen abfinden wollen. Vielmehr wollen sie, von Gott und seinen US-amerikanischen Televangelists gesegnet, es zu ewas bringen in Brasil today.

Mit Mrs. Paula White sind wir allerdings schon einen Schritt weiter. Weiter voran ins Alte Testament. Hat Gott nicht, um die Verheissung seines Bundes mit Israel zu erfüllen, dem auserwählten Volk einen „Priesterkönig“ geschenkt? Verstehen wir jetzt endlich den Sinn jener Photos aus dem Weissen Haus, auf denen jeweils ein volles Dutzend Televangelist***innen ihre Hände segnend auf Donald Trumps biblische Mähne legen. Daneben,  das alttestamentarische  Ereignis inszenierend, die Leiterin des „White House Faith Office“, Paula White herself. Ganz in papales Weiss gekleidet, so steht sie neben Donald Trump, wie einstmals der Prophet Nathan neben dem Priesterkönig David stand.

Lacht nicht! Bald schon könnten wir im agnostischen Westeuropa die letzten sein, die noch nicht an den davidischen Priesterkönig im Weissen Haus glauben, sondern immer noch und paradoxerweise an den Papst in Rom. Als Allerletzte werden wir uns noch empören über die – leider schwer wiederlegbare  - Botschaft amerikanischer Telephangelist***innen:

„Wenn Gott die Armen lieben würde, wären sie nicht arm.“

Ist Gott von Beruf Influencer?

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass mir der berühmteste deutsche Wärmepumpen-Hersteller rät, mir einen WLAN-Repeater zu kaufen, damit das mit meiner Wärmepumpe endlich klappt.

Also ein ratloser Blick ins Internet. Gleich stellt sich mir ein „Vater von zwei Jungen“ vor, also ein höchst vertrauenswürdiger Mensch. Er habe, rühmt er, „den Testsieger“ gekauft. Und es war das reine Wunder, was er für  Erfahrungen er mit dem WLAN-Repeater-Testsieger gemacht hat: WLAN-Verbesserungen „bis zu 579 Mbit/s“.

Was ist ein Mbit/s? Ich weiss es nicht. Aber ich glaub´s. So herzlich, so persönlich hat mich dieser erfolgreiche Familienvater durch alle drei Stockwerke seines riesigen – offenbar amerikanischen – Homes geführt, in den Keller hinab, in den Dachboden hinauf, in den weiten Garten hinaus. Fast ein Mar-al-lago, jetzt endlich erschlossen durch den WLAN-Testsieger.

Auch seine beiden gesunden american boys haben den „Testsieger“ erbarmungslos getestet, nicht nur auf ihren Handheld-Spielkonsolen, sondern auch beim Gamen auf Smartphone, Tablets und PC. Und sind hingerissen  vom „Testsieger“. Sogar, die Ehefrau kann es bezeugen, in allen drei Schlafzimmern kristallklarer Empfang von Netflix, Hulu, HBO und Peacock.

Jetzt nur noch eine Frage: Kann auch ich ihn bekommen,  den Testsieger?

Sure, ich habe ihn bestellt. Ohne mich noch, wie es sonst meine Gewohnheit ist, bei der Stiftung Warentest in Berlin zu vergewissern. Es ist ja alles so nüchtern, so unterkühlt, und ehrlich gesagt: so langweilig bei der Stiftung Warentest. Dagegen mein geführter Kaufwandel durch ein grossartiges american home mit einem glücklichen american family father und seinen beiden gesunden american boys, das hat mich vom „WLAN-repeater-Testsieger“ voll überzeugt.

Allerdings scheint es jetzt beim „shipping“ meines Testsiegers über den Atlantik Verzögerungen zu geben. „Shipping“, was heisst das? Heisst das, dass ich hereingefallen bin? Zum ersten Mal in meinem hochbetagten Leben hereingefallen auf einen Influencer?

Ja. Aber bereuen tue ich es nicht. So schön bin ich hereingelegt worden. So klassisch wie einst Boccaccio hereinfiel auf Padre Cipolla, den gerissensten Reliquien-Influencer der Toskana.

So wunderbar konnte Padre Cipolla predigen, dass die ganze Toskana untröstlich war, als er mit einem Mal verschwand. Doch dann kam er wieder: „Wusstet ihr es nicht? Ich habe eine Wallfahrt gemacht. Eine wunderbare Wallfahrt nach Lügien und Trügien, nach Erfindien und bis in die Äusserste Mogelei.“

„Und wieviele wunderbare Reliquien ich heimgebracht habe! Nicht nur die wundertätige Feder des Engels Gabriel, sondern auch eine Locke des Seraphs, der dem heiligen Franz von Assisi feurig erschienen ist; ferner ein Fläschchen mit dem Schweiss, den der Erzengel Michael vergossen hat, als er mit dem Satan bis zur Erschöpfung kämpfte; nicht zu vergessen einen wunderschön erhaltenen Zahn des heiligen Kreuzes; eine Ampulle mit etwas Glockenklang vom Tempel Salomons; sowie, besonders kostbar, drei Kohlen vom Rost, auf dem der heilige Laurentius geröstet worden ist. Alles als echt bezeugt durch ein persönliches Schreiben des Patriarchen von Jerusalem.“

 

Fehlt eigentlich nur aus Lügien und Trügien ein wunderbarer WLAN-Repeater.

 

Im Ernst: die ganze Krise der Religion rührt davon her, dass sie glaubt, seriös werden zu müssen. Das muss sie doch gar nicht. Wie sagt der ewige, unsterbliche Gott im im zehnten Gesang der Bhagavad Gita, im „Buch der göttlichen Vollkommenheiten“:

 

„Von allen Betrügern bin Ich der gerissenste.“

 

Die Bhagavad Gita ist im ersten oder zweiten Jahrhundert in Indien verfasst worden. Würde sie heute geschrieben, so hiesse es gewiss:

 

Was ist ein WLAN-Repeater?

 „Von allen Influencern bin ich der Testsieger.“

 

Liebeserklärung an das Domradio

Was ich die ganze Zeit schon fragen wollte: Hört ihr auch so gern  das Domradio? Mir fällt auf, dass da immer mehr von Wallfahrten berichtet wird. Sogar ein neuer Typ von katholischen Journalist*innen meldet sich im Domradio fleissig zu Wort: die „Wallfahrts-Expert*innen“. Nichts gegen Wallfahrts-Expert*innen.

Aber warum wallfahrten Kardinal Woelkis Wallfahrts-Expert*innen alle immerzu nach Santiago de Compostela,  nur nicht dorthin in Spanien, wo ich meine stärksten Wallfahrts-Erlebnisse hatte, warum nicht zur grössten und stärksten aller katholischen Frauen, warum nur nicht zur Grossen Theresia nach Avila?

Ein so freches Weibsbild war die heilige Theresia von Avila, dass sie manchmal nicht nur den Respekt vor dem König von Spanien verlor, sondern sogar den Respekt vor Gott selber. Eines Abends, auf ihrem Betschemel, machte sie Gott die schlimmsten Vorwürfe, weil er es zugelassen habe, dass ihr Freund Juan de la Cruz, der heilige Johannes vom Kreuz, im Kirchengefängnis von Toledo grausam misshandelt worden war. Als er wieder aus dem Gefängnis herauskam, „sah er abgezehrt und entstellt aus wie ein Toter“. Als Antwort auf ihre Vorwürfe wurde Theresia in eine Vision entrückt. Gott Vater erschien ihr und zeigte ihr seinen Sohn, wie er am Kreuz hing. „Schau her, Theresia, so behandle ich meine Freunde!“ Da wurde Theresia von Avila sarkastisch: „Mein Gott, wenn du deine Freunde so behandelst, dann brauchst du dich nicht zu wundern, dass du so wenig Freunde hast!“

Aus Salamanca war er, der Freund ihrer Seele. Lass dir den spanischen Namen im deutschen Ohr verklingen. Salamanca klingt schon fast nach Indien. Aus Salamanca ist Johannes vom Kreuz zu ihr nach Avila gekommen.

Siebenundzwanzig Jahre jünger war er als Theresia. Grosse schwarze Augen hatte er und eine poetische Seele. Mit Ironie war er nicht so begabt wie Theresia von Avila. Aber die Abwesenheit Gottes hat er noch stärker erlebt als Theresia. Und er hat daraus die stärkste christliche Mystik entwickelt: „la noche oscura“ – „die dunkle Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz“.

Mit Johannes vom Kreuz, liebe Wallfahrts-Expert*innen vom Domradio, lasst jetzt die gewaltigen Mauern von Avila hinter euch und pilgert hinab zum Kloster San José. Ein Fenster gibt den Blick frei ins Innere des Klosters. Und dort auf die Treppe, auf der jene mystische Begegnung stattgefunden hat, die mir besser gefällt als alle dunklen Nächte des Juan de la Cruz.

Gedankenverloren kam die heilige Theresia diese Stufen  hinaufgestiegen. Unvermutet kam ihr ein kleiner Bub auf der  Treppe lustig entgegengepurzelt. Blieb vor ihr stehen und fragte neugierig: „Wer bist du?“

„Ich bin“, antwortete Theresia wahrheitsgemäss, „Teresa de Jesús“. Lachend erwiderte der Kleine: „Und ich bin Jesús de Teresa.“

Jetzt eine Frage an Kardinal Wölkis Wallfahrts-Expert*innen: Könnt ihr mir beim Übersetzen helfen? Einmal hat Theresia von Avila gesagt: „Es ist unmöglich, mit Johannes vom Kreuz über Gott zu reden, ohne dass er sofort in Ekstase fällt und man mit ihm.“ So wird das gewöhnlich übersetzt. Mich stört aber das „man“. Einmal habe ich selber übersetzt mit „und ich mit ihm“. Das war wohl die Grenzüberschreitung eines alten weissen Mannes.

Ihr aber, liebe Wallfahrts-Expert*innen des Domradio, ihr wisst besser als ich, dass Simone de Beauvoir die heilige Theresia verehrt hat als die grosse Wegbereiterin der Frauenbewegung. Drum werdet ihr´s besser machen als ich. Feministisch werdet ihr fürs Domradio übersetzen:

„Es ist unmöglich, mit Juan de la Cruz über Gott zu sprechen, ohne dass er sofort in Ekstase fällt und frau mit ihm.“

"Was ist Wahrheit?" (Johannes 18, 38)

Ich liebe sie. Ich liebe die Tausend-Franken-Note der Schweizerischen Nationalbank. Mehr als alle andere Banknoten liebe ich diese. Warum? Weil auf ihr der gescheiteste Schweizer aller Zeiten abgebildet ist. Das ist der Basler Historiker Jacob Burckhardt. Von ihm stammt die epochale Erkenntnis, „dass die Macht an sich böse ist“.

Ist Jacob Burckhardt zu diesem Urteil bei seiner jahrzehntelangen Erforschung der Mächtigen in Antike und Renaissance gekommen? Wahrscheinlich nicht. Stärker beeindruckt hat ihn das eigene, unmittelbare, tägliche Erlebnis von Dummheit, Verlogenheit, Hinterlist und Niedertracht in der Basler Lokalpolitik.

Geht es uns Nachgeborenen besser? Nein. Statt bösem Streit im kleinen Basel müssen wir jetzt den fast ebenso bösen Streit im grossen world village ertragen. Und statt der längst verklungenen Unerträglichkeiten aus den Mäulern von Basler Lokalpolitikern müssen wir, täglich frisch und neu, hören, was Donald Trump und Elon Musk uns zu sagen haben.

Was tun? Manche versuchen es mit fact checking. Ich halte das für hoffnungslose Sisyphus-Arbeit. Lebte Jacob Burckhardt heute, er würde, was Donald Trump und Elon Musk alles sagen, gewiss nicht an der kümmerlichen Wirklichkeit messen, sondern an der mächtigen Person.

Alle Factcheckerei geht ja aus von der falschen Annahme, dass Trump und Musk lügen. Das ist aber nicht wahr. Beide sind zutiefst ehrlich. In gewissem Sinne sind sie sogar viel zu ehrlich. Weil sie viel zu mächtig sind.

 Um gleich beim einfacheren Fall zu bleiben: Was ist mein armseliges Bündelchen von Eintausend-Franken-Scheinen verglichen mit den 450 Milliarden Dollars, die Elon Musk schon gar nicht mehr zu bündeln braucht. Sie bündeln sich längst elektronisch.

Darum ist Macht böse. Weil 450 Milliarden dem Mächtigen ein derart übersteigertes Selbstgefühl verleihen, dass er alles, was ihm – an sich ganz ähnlich wie dir und mir -  den Tag lang so durch den Kopf fährt, teils Wahres, teils Falsches,  sofort und gänzlich für wahr hält. Das muss auch ganz Australien, Südafrika, Amerika, ja neuerdings sogar Europa als wahr glauben.

Wohin uns derlei Wahrheit führen wird? „Wen Gott verderben will, den macht er vorher blind,“ sagten die Alten Griechen. Von „Cäsarenwahn“ sprachen die Alten Römer. Ich übersetze das gern ins Moderne: Wen Gott verderben will, dem schenkt er vorher 450 Milliarden.

Trotzdem muss ich euch enttäuschen: Ihr trefft mich nicht auf euren Lichterdemonstrationen in Berlin. Lieber bleibe ich daheim und zähle ganz für mich allein Eintausend-Franken-Banknoten. Die mit Jacob Burckhardt drauf. Wenn ich da immer weiter zähle, komme ich vielleicht auch noch eines Tages, so ganz von selber,  auf 450 Milliarden. Dann brauche ich keinen Augenblick mehr an mir zu zweifeln. Keinen Satz brauche ich mehr endlos hin und her zu wenden. Keine facts brauche ich mehr zu checken. So mächtig werde ich sein.

Und alles, alles, was ich sage und schreibe wird ganz von selber wahr.

Theologie des grünen Wahlkampfs in Berlin-Pankow

„credo, quia absurdum“ – Weil es absurd ist, glaube ich“: Ob Tertullian, ein antiker christlicher Theologe, das so gesagt hat, ist umstritten. Sicher ist, dass dieser paradoxe Satz die grossen Geister der Moderne, von Kierkegaard bis Sigmund Freud, fasziniert hat. Die kleinen auch. Zuletzt auch mich.

Dass Cleopatra Cäsar so zu verführen wusste, dass er, statt in Rom zu herrschen, in ihren Armen monatelang nilauf, nilab kreuzte, glaube ich gern. Glaube ich doch auch, dass Cleopatra in Alexandrien schon vorher mehr als hundert Männern, einem nach dem andern, in einer einzigen Nacht, höchste erotische Erfüllung zu verschaffen wusste.

Dass der heilige Filipo Neri die wunderbare Gnadengabe der Trilokation besass, das heisst, dass er fähig war, an drei verschiedenen Orten gleichzeitig zu erscheinen, ist absurd. Ich glaube es trotzdem, weil Filippo ja nachweislich an drei verschiedenen Orten gleichzeitig gestorben ist. Jedenfalls ist ihm die Totenmaske nicht nur in Rom, sondern auch in Neapel und in Florenz abgenommen worden.

Dass die Pariser Courtisane Ninon de Lenclos, als sie schon über siebzig war, die ganze männliche Jugend von Paris immer noch in die Liebe eingeführt hat, halten die meisten für absurd, ich aber glaube es, weil es nicht nur alte weisse Männer gibt, sondern eben auch junge. Und je jünger sie sind, desto leichter fallen Männer auf Frauen herein.

Und die Grünen in Berlin-Pankow? Dass Frauen Männer ruinieren können, weiss ich als alter weisser Mann. Aber dass im Jahr 2025 ein grüner Politiker in Berlin beruflich und persönlich ruiniert wird durch eine Frau, die, wie wir aus der sicheren Quelle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erfahren, „gar nicht existiert“, das ist nicht absurd, sondern so jenseits aller Absurdität, dass ich es niemals, niemals glauben werde.

Oscar Wilde for Archbishop of Canterbury!

Ich kenne ein paar schöne alte Wörter. Aus dem Neuhochdeutschen sind sie verschwunden. Es gibt sie nur noch auf englisch und auf schweizerdeutsch. Eins davon ist englisch „to giggle“, berndeutsch „gigele“.

Was heisst das? „Gigele“ ist der ununterdrückbare Drang zu kichern, zu glucksen, wie er manchmal Mädchen in der Pubertät überkommt, wenn sie auf dem Mäuerlein  vor der Schule sitzen und nicht mehr anders können als eben über alles und nichts zu gigeln.

Ich bin aber kein Mädchen in der Pubertät. Ich bin ein alter weisser Mann, der seine alte weisse Lieblingszeitung liest: „Le Monde“. Was lese ich da heute? Ich lese mich fest an einem endlos langen Bericht über die endlos langen Sexualskandale in der Kirche von England. Neuerdings muss sich diese ehrwürdigste aller Kirchen sogar einen neuen Primas, einen neuen  Erzbischof von Canterbury suchen. Und scheint keinen mehr zu finden.

Jetzt aber halt! Das einzige, was kirchliche Sexualskandale bisher in meinem christlichen Gemüt auslösten, waren tiefe Trauer und helle Empörung. Warum gigelt es jetzt so in mir über den Skandal von Canterbury? Empfinde ich vielleicht mit dem Bericht in „Le Monde“ jene altfranzösische unterschwellige Schadenfreude über alles, was in England schiefläuft? Oder ist es, noch unterschwelliger, meine eigene katholische Schadenfreude über alle jene Kirchen, die sich so lange hinter der katholischen Schande verstecken zu können glaubten?

Darüber will ich später nachdenken. Jetzt geht es erst einmal darum, meiner Gigelei ein Ende zu setzen. Sonst kann ich mich ja gar nicht mehr sehen lassen unter christlichen Glaubensbrüdern jeglicher Konfession. Auf und ab an meiner Bücherwand gleitet mein Blick. Da ist ein englisches Buch, das mir jetzt helfen könnte: „The Importance of Being Earnest“. Und bei der Gelegenheit ein very helpful continental advice für die Kirche von England:

 Wie wär´s mit Oscar Wilde als neuem Erzbischof von Canterbury?

 

 

Wie mit Schandtaten umgehen?

Einmal habe ich Kölns grössten Komödianten, den alten Willy Millowitsch, in seinem Theater erlebt. Nach seiner Gewohnheit unterbrach er sich selbst mitten in der Komödie mit einer rheinischen Lebensweisheit. Und er hob seine Stimme: „(forte) In jedem Leben kommt einmal die Stunde der Wahrheit. (fortissimo) Und dann heisst´s lügen, lügen, lügen!“ Obwohl alle verstanden hatten, was er meinte, erhob sich das gesamte Publikum, Männer und Frauen, zur gemeinsamen rauschenden Ovation.

Letzte Nacht hatte ich einen entsetzlichen Albtraum. Ich sah den alten Millowitsch auf der alten, sonst kaum noch genutzten Kanzel des Kölner Doms. Er las das jüngste kirchliche Missbrauchs-Geständnis, das evangelische diesmal, vor. Nach seiner Gewohnheit unterbrach er sich selbst mit einer rheinischen Lebensweisheit. Und er hob seine Stimme: (forte)„In jeder Kirche kommt einmal die Stunde der Wahrheit. (fortissimo) Und dann heisst´s vertuschen, vertuschen, vertuschen!“

In vereinter moralischer Empörung stürzte die ganze Kirche, Männer wie Frauen, zur Kanzel. Sie rissen Willy Millowitsch herunter, schleiften ihn vor den Dom und verbrannten ihn dort unter furchtbarem Hohngelächter. 

Da wachte ich auf, gebadet in katholischen und in evangelischen Schweiss.

 

Katholische Kirche und Künstliche Intelligenz

Manche haben sich gewundert, warum wir auf dem Synodalen Weg unsere sexuellen  Sorgen erschöpfend diskutiert haben, ein anderes, viel wichtigeres Problem aber kaum anzuschneiden wagten: Wie stehen wir als progressive Katholiken zu den atemberaubenden Fortschritten der Künstlichen Intelligenz (KI)?

Für dieses sprachlose Versagen gibt es zwei theologische Erklärungen. Die positive, die interpretatio benigna, weist zu Recht darauf hin, dass uns in Künstlicher Intelligenz niemand etwas vorzumachen braucht. Seit ältester Zeit schon  hatte unser katholisches Denken, vor allem die Dogmatik, einen auffälligen Zug ins Künstliche. Da ist jedes katholische Studentlein schon im römischen Proseminar jedem noch so berühmten KI- oder besser AI-Professor aus Cambridge (Massachusetts) von vornherein um Jahrhunderte voraus.

Die negative, die interpretatio maligna, erkennt dagegen einen ganz  urtümlichen Angstreflex. Seit das Handelsblatt gemeldet hat, dass KI in den grossen deutschen Versicherungen zunehmend „repetitive Tätigkeiten“ übernimmt und die entsprechenden repetitiv geprägten Arbeitsplätze ersatzlos wegfallen, befällt manche noch so talentierte Pastoralassistentin und auch manchen etwas weniger talentierten Pastoralpastor eine nicht unbedingt pastorale Existenzangst.

Besteht nicht jede Religion, vor allem aber die unsere, im Kern aus „repetitiven Tätigkeiten“? Könnte also nicht Künstliche Intelligenz am Altar oder im Beichtstuhl unsere immerzu gleichen Riten besser zelebrieren als unser oft schon an Alzheimer leidender und somit repetitionsunfähig gewordener Klerus?

Hier allerdings gilt es auch gleich einen Irrtum auszuräumen. KI, die solche repetitiven Tätigkeiten übernimmt, gilt in Cambridge (Massachusetts) nur als die „schwache KI/AI“. Viel interessanter für die Katholische Kirche ist jene „starke Künstliche Intelligenz“, die sich, wie aus Wikipedia hervorgeht, gerade jetzt  in rasanter Entwicklung befindet. Damit gemeint ist Künstliche Intelligenz, die nicht nur „repetitiveTätigkeiten“ noch repetitiver gestaltet, sondern der auch etwas gelingt, was bisher menschlicher Intelligenz vorbehalten war: „Starke KI/AI“ ist nicht repetitiv, sondern schöpferisch. Mindestens so schöpferisch, wenn nicht schöpferischer als menschliche Intelligenz.

Wer denkt da nicht gleich an Papst Paul VI?  Bei seiner berühmten Liturgiereform hat menschliche Intelligenz so vieles falschgemacht, dass es naheliegt, die nächste Liturgie-Reform lieber den schöpferischen Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz anzuvertrauen. Aber da sind wir immer noch bei den „repetitiven Tätigkeiten“.

Was ich eben sagte, ist jedoch schlichtweg falsch: dass Religion im Kern „repetitiv“ sei. Im Gegenteil: innerster Kern der Religion ist, wie ich bei Hans Urs von Balthasar gelesen habe, etwas zutiefst Einmaliges, Unwiederholbares, ja Revolutionäres: Unsere Religion lebt von ihren Heiligen. Wo aber sind sie, die echten Heiligen unserer Zeit? Hier liegt wohl die wichtigste katholische Aufgabe Künstlicher Intelligenz: Mangels heiliger Menschen künstliche Heilige zu erschaffen. Leider aber lebt auch die Religion nicht von der Heiligkeit allein. Wie wär´s auf die Dauer mit der schöpferischen Herstellung von künstlichen Kirchensteuer-Zahlern?

Derweil hoffen wir progressiven Katholik*innen unentwegt auf einen neuen Erzbischof von Köln. Vielleicht bekommen wir ihn deshalb nicht, weil man im Vatikan einfach nicht mehr weiss, wer das überhaupt werden könnte. Ob es noch irgendeinen gibt, der selber Erzbischof von Köln werden will? Kein normaler Mensch, scheint mir jedenfalls, hat noch Lust, sich  auf einen solchen spirituellen Schleuderstuhl zu setzen. Ein künstlicher Erzbischof von Köln, wäre das nicht eine starke Schöpfung „starker KI/AI“?

In Rom steht gottseidank alles noch nicht so schlimm wie in Köln. Da gibt es noch genügend Kardinäle, die sich zutrauen, mit Gottes Hilfe nächstens Papst zu werden. Die Frage ist nur, wie sich Gottes Wille gegen die Intrigen allzu menschlicher Intelligenz auf dem bevorstehenden Konklave durchsetzen kann. Wäre es da nicht besonders fortschrittlich, nächstens gar kein Konklave mehr abzuhalten, sondern die starke Wahl eines starken neuen Papstes vertrauensvoll „starker KI/AI“ zu überlassen?

 

 

 

 

Zölibat und Klimakatastrophe.

Dass der Zölibat an vielem schuld ist, wissen wir alle. Trotzdem hat niemand bisher behauptet, dass der Zölibat auch schuld sei an der Klimakatastrophe. Vielleicht ist das sogar das einzige, woran er sicher nicht schuld ist. Dass dennoch ein vielleicht untergründiger Zusammenhang zwischen Klimakatastrophe und Zölibat sei, ahnen manche. Warum ist dieses Thema trotzdem auf keiner Sitzung des Synodalen Wegs zur Sprache gekommen?

Ich will euch sagen, woran das liegt. Nämlich am Niedergang der katholischen Bildung. Zu den Selbstverständlichkeiten katholischer Bildung gehörte es zu meiner Zeit (Jahrgang 1937), Amélineau zu lesen. Emile Amélineau, den grossen französischen Ägyptologen. Ihm ist als erstem aufgefallen, dass die Keuschheit im Urchristentum noch keine besondere Rolle gespielt hat. Zur höchsten  (und schwierigsten) aller Tugenden ist sie erst geworden, als sich das Christentum nach Ägypten verlagerte. Dort erst konnte es geschehen, dass ein so genialer christlicher Theologe wie Origenes kaum noch etwas anderes im Kopf hatte als die Keuschheit. Als er dennoch einer seiner sieben Sekretärinnen („Schönschreiberinnen“) verfiel, wusste er sich nur noch damit zu helfen, dass er zum Messer griff. Und er hieb sich jenes Glied, mit dem er gesündigt hatte, ab.

Das Besondere nun an Ägypten, fand Amélineau heraus, sei das doch schon ausgeprägt afrikanische Klima. Ihm persönlich, so gibt er freimütig zu, sei die Keuschheit  in Ägypten schwergefallen. Und je weiter südwärts er bei seinen Forschungen dem Nil entlang gereist sei, desto schwerer. Von einer bestimmten Hitze an sei Keuschheit fast unmöglich. Das heisst aber nicht, dass sie in Ägypten aus der christlichen Moral verschwunden sei. Im Gegenteil. Je weniger der normale ägyptische Christ zur Keuschheit fähig gewesen sei, desto grösser das Ansehen jener wenigen, die als Wüstenväter draussen in der sengenden Einsamkeit Keuschheit nicht nur gelobten, sondern auch tatsächlich lebten. So wurden die Kämpfe des heiligen Antonius gegen die Dämonen der Unkeuschheit bis ins Mittelalter zur berühmtesten christlichen Heiligengeschichte. So stieg im christlichen Ägypten, erst dort, die sexuelle Entsagung auf zu einer mit dem Martyrium vergleichbaren Heldentat, von allen, die dazu so wenig fähig waren wie zum Martyrium, begeistert bestaunt und gefeiert.

Da fällt denn auf, dass heute die Verachtung der Keuschheit und die Forderung nach Abschaffung des Zölibats aus lauter klimatisch unterkühlten Zonen kommt. Aus Ländern, in denen auch der ganz gewöhnliche Alltag  so rationalisiert und unterkühlt verläuft, dass etwas derart Irrationales wie die sexuelle Aktivität bis auf geringe, auffällig marginale Reste geschwunden ist. Nicht also weil ihn der sexuelle Drang besonders drängt, verehrt der normale Mensch bei uns den  Zölibat nicht mehr. Das Gegenteil ist der Fall. Weil er selber so wenig sexuell aktiv ist, erkennt er im Zölibat nicht mehr die titanische Spitzenleistung, als die er einst in der heissen Wüste Ägyptens galt.

Theologisch sind wir jetzt mitten drin in der Klimakatastrophe. Es könnte ja sein, dass die katastrophalen Temperaturen dieses Sommers nur Vorboten sind für eine Erhitzung, die uns allen dauerhaft Lebensumstände wie im Alten Ägypten bescheren wird. Vielleicht sollten wir uns auf unseren Synodalen Wegen Gedanken darüber machen, ob nicht morgen schon mit dem klimakatastrophenbedingten Wiederaufleben der allgemeinen sexuellen Aktivität auch die Bewunderung der Keuschheit als heroischer Leistung einer winzigen Elite bei uns erneut ägyptische Ausmasse annehmen könnte. Wie denn geschrieben steht im  Evangelium nach Matthäus 22, 14: „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“

Erleuchtung in Chalons-sur-Marne

Châlons-sur-Marne im Jahr 1953. Nichts ist mir in Erinnerung als der Eingang zur Kaserne der „Gendarmerie de la Marne“. Um junge Ausländer anzulocken, hing dort ein grosses Plakat: „Viens dans la Légion Etrangère. Tu deviendras un chef! - Komm in die Fremdenlegion. Aus dir wird ein Chef!“

 Ich war ein halbwüchsiger Schweizer, den Kopf schon voll von gymnasialer Bildung. An die Fremdenlegion hatte ich nie gedacht, nach Châlons-sur-Marne wollte ich überhaupt nicht. Ins Louvre wollte ich, in das Museum aller Museen nach Paris. Mein knabenhafter Irrtum war, dass ich mir das Reisen per Anhalter in Frankreich zu einfach vorgestellt hatte. Von Strassburg kam ich unendlich mühsam bis nach Châlons-sur-Marne (heute Châlons-en-Champagne). Von dort war gar kein Fortkommen mehr. Gezwungenermassen schaute ich mich in Châlons um, einer kleinen Stadt so grau und trist wie damals fast alle französischen Städte, Paris nicht ausgenommen,

 Doch dann die Erleuchtung fürs ganze Leben: die „Gendarmerie de la Marne“! Es war nicht nur der verheissungsvolle Text am Eingang zur Kaserne „Aus dir wird ein Chef!“ Packender war das Bild. Über dem Text nämlich prangte der Kopf eines offenbar höchst erfolgreichen Chefs: Aus den Augen ein Blick von gnadenloser Uneinsichtigkeit, darunter ein so herrisch vorgerecktes Kinn, wie wir  es  damals alle noch von Mussolini in Erinnerung hatten.

 Respektvoll  knapp hatte mein Vater das Wort „Chef“, „Chefsache“ gar, stets ausgesprochen,. Jetzt sah ich am Eingang zur Gendarmerie, unvergesslich plakatiert, dem Inbegriff eines Chefs ins Auge. Und wie  ich das herrisch vorgereckte Kinn anstarrte, durchfuhr mich wie ein Blitz die göttliche Erleuchtung: Alles will ich im Leben werden, alles nur das nicht: Auf gar keinen Fall wird aus mir ein Chef.

 Lasset mich beten!

 Barmherziger Gott, vor der Gendarmerie-Kaserne von Châlons-sur-Marne hat du mich einst in törichter Jugend dagegen gefeit, jemals ein Chef werden zu wollen. Bewahre mich jetzt in der Torheit des Alters davor, stolz zu sein auf das, was ich sonst alles geworden bin. Denn dies ist die göttliche Erleuchtung, die du mir vor jener französischen Kaserne geschenkt hast: Es wird am Jüngsten Tagt nicht darauf ankommen, was einer im Leben erreicht hat. Für Gottes Richtspruch zählt allein, was einer nicht geworden ist.

Biologie der Letzten Generation

Schwere Sorgen machen wir uns alle über den abgrundtiefen Riss der sich in unserer  grünen Linken aufgetan hat. Warum klebt sich unsere Annalena Baerbock nicht für die Umwelt mit auf die Autobahn in Berlin? Warum anerkennt Luisa Neubauer nicht, wieviel Annalena mit Kompromissen in Brüssel und in NewYork für unsere Umwelt herausholt? Und warum haben die doch sonst so woken deutschen Qualitäts-Medien kein Verständnis für die Letzte Generation, wenn sie auf stressigen Autobahnen für Ruhepausen sorgt und verschlafene Museen mit linker Kreativität weckt?

Wahrlich ich sage euch: So schwere Sorgen macht man sich mangels Bildung. In diesem Fall sogar mangels deutscher Bildung. Schon in der tiefsten Kaiserzeit, im Frühjahr 1910, hat ein Klassiker der deutschen Soziologie eben diese unsere anscheinend neueste Sorge erhellend zu Ende gedacht: Robert Michels. „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ ist der harmlose Titel seines Buches, das  dennoch eine solche Sensation auslöste, dass es alsbald in alle Sprachen übersetzt wurde. Auf englisch wird es noch heute in Amerika gelesen. Von uns auf deutsch nicht mehr. Es ist ja nur wilhelminische deutsche Bildung.

Was aber ist so zeitlos sensationell an Michels? Er hat die Risse studiert, die damals durch Europas Linke gingen. Und er ist dabei auf ein Gesetz der Biologie gestossen, ein Ehernes biologisches Gesetz,das sich damals nicht leugnen liess und sich auch heute nicht weggendern lässt: Biologisch unabwendbar altert jeder Mensch, sogar ein linker altert. Und ist er einmal alt, so denkt und handelt er anders als in jungen Jahren.

Der Junge ist erfüllt von Idealismus. Darum will er die Realität ändern. Sie entspricht ja keineswegs dem linken Ideal. Der Alte weiss, dass Macht mehr bewirkt als Idealismus. Wer auch nur ein bisschen etwas ändern will, braucht Macht. Das Grundgesetz der Machtausübung aber ist der Kompromiss, ganz oben aussgehandelt im kleinsten Kreis. Zum Beispiel zwischen unser aller Annalena, unser aller Robert, unser aller Christian und unser aller Olaf. Als habe er persönlich in Berlin im Stau der Letzten Generation gesessen, schliesst Michels anno 1910: „Und dieses grausamen Spieles zwischen dem unheilbaren Idealismus der Jungen und der unheilbaren Herschsucht der Alten ist kein Ende. Stets neue Wellen stossen gegen die stets neue Brandung. Das ist die tiefinnerste Signatur der Parteigeschichte.“

Bekehrt euch zum Heidentum!

Keiner wird bestreiten, dass zum Wichtigsten in der Religion die Bereitschaft gehört, sich zu bekehren. Man braucht das nicht so häufig zu tun wie Henri Quatre, König Heinrich IV von Frankreich, der sich alle zwei, drei Jahre feierlich bekehrt hat. „Abjuration“ nannte man das damals. Das eine Mal hat er dem blinden Papsttum abgeschworen, das andere Mal dem reinen Evangelium aus Genf. Segen hat es ihm nicht gebracht. Insgesamt achtzehn Attentate sind gegen Henri Quatre verübt worden. Und alle Attentäter waren sich darin einig, dass der König sich nicht richtig, auf jeden Fall nicht auf die richtige Art bekehrt hatte.

Ich bin so steinalt, dass ich die bisher letzte Welle der Bekehrung in der katholischen Kirche noch persönlich erlebt habe. Ein belgischer Chorherr war es, der in die Konzilsdebatten das Schlagwort geworfen hat von der „conversion au monde“. „Bekehrung zur Welt“. Alle haben wir mit einem Mal daran geglaubt. Das ist jetzt aber longlong ago, long ago. Nach gut achtzig Jahren ist es hohe Zeit für eine ganz neue Welle der Bekehrung.

Diese Erleuchtung verdanke ich dem Kölner „Domradio“. Auf seiner Internetseite hat es dieser Tage ein dramatisches Interview mit Marco Politi geführt. Der grosse Vatikan-Experte beschreibt eine derartige Vergiftung der Stimmung unter Katholiken, ein derartiges Anwachsen der innerkirchlichen Feindschaft, dass es nicht übertrieben sei, von einem veritablen „Bürgerkrieg“ zu sprechen. Dabei kann so ein Italiener doch – germanicum est, non legitur - kaum etwas wissen von dem Gift und der Galle, mit der auf dem Synodalen Weg der Deutschen die modernistische Mehrheit und die traditionalistische Sperrminderheit sich gegenseitig bespucken. Woher die zutiefst unchristliche Feindschaft unter Schwestern und Brüdern?

Das schönste an einer Bekehrung ist die Erfrischung der Seele. Achtzig Jahre nach der letzten Bekehrung sind die katholischen Seelen, die linken wie die rechten, ganz vergrämt, vertrocknet, verkalkt, versauert  und vergiftet. Was wir alle brauchen, ist eine neue Bekehrung. Aber nicht  die Bekehrung, zu welcher der Prophet Jeremias aufgerufen hat: „Jerusalem, Jerusalem, bekehre dich zum Herrn, deinem Gott!“

Dem Propheten Jeremias zu widersprechen, fällt schwer. Was uns not  tut, ist aber nicht die Bekehrung zum biblischen Gott, sondern zum Gegenteil: zum antiken Heidentum.

Ob links, ob rechts, der ganze Katholizismus ist jener unheilbaren Rechthaberei verfallen, die immer droht, wenn eine Bekehrung zu lange her ist. Keiner glaubt mehr, jeder weiss, was er weiss, und weiss es längst auswendig. Kein jüdischer Prophet lehrt uns die Bekehrung von dieser rechthaberischen Verkalkung des Glaubens. Das Wort, das unsere Seelen, die modernistischen und die traditionalistischen, alle auf einen Schlag heilen könnte, stammt vom grössten aller Heiden: „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, hat Sokrates gesagt.

In Wirklichkeit nämlich weiss keiner von uns, wie es weitergehen soll mit der katholischen Kirche. Ich jedenfalls bekenne, dass ich keine Ahnung habe, wie wir aus dem katholischen Debakel herauskommen. Ist Nichtwissen eine Schande? Nein, Nichtwissen ist Weisheit. Nicht Weisheit der Juden, nicht Weisheit der Christen, sondern Weisheit der Heiden.

Bekehrt euch zum Heidentum! Bekehrt euch zur Weisheit der Heiden: „Ich weiss, dass ich nichts weiss.“

Weihnachten 1944

„Achtung“, sagte der Vater, „seid still; gleich drücke ich  auf den roten Knopf.“ Das war der Höhepunkt des Weihnachtsfestes 1944. Und wenn Vollkommenheit dadurch definiert ist, dass nichts fehlt, gar nichts, so war es ein vollkommenes Weihnachtsfest.

 Da war eine Dreizimmerwohnung in Zürich; eine Stube mit Zentralheizung und Parkett; Buffet, Sofa, Tisch und Stühle in Nussbaumfurnier; die Mutter mit der frischen Dauerwelle, der Vater frisch gescheitelt und den Scheitel frisch geölt; in der Ecke der Christbaum  mit der hohen silbernen Spitze  vom Dachboden, wie jedes Jahr, behutsam aus dem Seidenpapier gewickelt. Doch das alles war noch nicht die Vollkommenheit. Vollkommen war ein Weihnachtsfest 1944  erst mit einer elektrischen Modelleisenbahn.

„Es ist eine Trix Express“, sagte der Vater, „Sie kommt aus Nürnberg. Dein Taufpate und ich haben sie zusammen in der Bahnhofstrasse gekauft. Spur 00. Die haben die Deutschen extra entwickelt, damit sie auf so einen kleinen Stubentisch passt. Achtung, ich drücke jetzt auf den Knopf!“

Und dann das Unfassbare: Die wunderschöne kleine Dampflokomotive aus Nürnberg, an der selbst die Leitern in Gusseisen putzig nachgeformt waren, sie fuhr nicht etwa in die falsche Richtung los, nicht etwa zu langsam oder zu schnell. Nein, sie fuhr überhaupt nicht. Das deutsche Spielzeug tat keinen Wank.

Prüfend nahm der Vater die Lok in die Hand. „Nürnberg soll bombardiert worden sein“, sagte die Mutter besorgt. Auch die Gleise aus schwarzglänzendem Kunstharz sahen wir sorgfältig nach. Nirgendwo war ein Schaden zu erkennen. Doch die Lok stand unverwandt still. „Vielleicht liegt es am Trafo“, sagte der Vater, „der Trafo ist schweizerisch.“ 

Warum war der Trafo schweizerisch? „Wegen dem totalen Krieg“, erklärte der Vater. „Die Deutschen liefern keine Trafos mehr.“ Gespannt hielten wir  die Ohren an den schweizerischen Trafo. Er summte. An ihm  also lag es  nicht.

Plötzlich fiel mein Blick auf die Buchsen am Trafo. Über der einen war ein Plus-Zeichen, über der anderen ein Minus-Zeichen. „Papi“, sagte ich ganz leise, „es ist alles in Ordnung. Du hast nur beim Anschliessen den positiven mit dem negativen Pol verwechselt. 

Und wie nun die Stirnlampen der Lokomotive märchenhaft aufleuchteten und der deutsche Zug  losfuhr, lustig im Oval auf dem  nussbaumfurnierten Stubentisch, da  war es, als ob alle Engel von Nürnberg durch die Dreizimmerwohnung in Zürich jubilierten. Das Weihnachtsfest 1944 war vollkommen. Das ganze Leben, ich wusste es, würde vollkommen sein. Ich durfte nur den positiven und den negativen Pol niemals verwechseln.

Christ*innen gegen die Weihnachtshysterie

Als ich jung war und somit viele Freunde hatte, war ich sogar befreundet mit einem evangelischen Theologen in Hannover. Befremdet hat mich an ihm nur eines: Zur klassischen Urlaubszeit, im hohen Sommer, wenn es uns alle an den Strand zog oder ins Hochgebirge, blieb er unverdrossen an seinem protestantischen Schreibtisch in Hannover sitzen. Dann aber, wenn wir andern alles abarbeiteten, was übers Jahr liegengeblieben war, im Dezember, nahm er als einziger von uns Urlaub. Ich hielt das zuerst für eine Marotte. Als er dann aber, Jahr für Jahr, immer wieder seinen Urlaub im Dezember nahm, konnte ich mir die Frage nicht mehr verkneifen. „Dezember“, gab er zur Antwort, „ist ein Monat wie kein anderer. Die Blätter sind schon alle gefallen. Aber Schnee fällt noch nicht. Igel, Bär und Murmeltier liegen im verdienten Winterschlaf. Die Schwalben sind abgeflogen in den Tschad. Die ganze Natur, die Schöpfung ruht. Und wenn die Schöpfung ruht, dann ruhe ich als Christ mit ihr.“ Danach ein Geständnis: Selbst den Altardienst überlasse er an Weihnachten weniger naturverbundenen Kolleg*innen. „Vom 1. Dezember bis Silvester tue ich ganz einfach nichts.“

Das war vor einem halben Jahrhundert, als noch niemand das Wörtlein „öko“ kannte. Und jetzt? Dezember hat noch kaum begonnen, da fängt sie schon an, die neudeutsche Weihnachtshysterie. In allen Werkstätten der verzweifelte Versuch, all die fehlenden Ersatzteile vor dem Fest noch aufzutreiben. In allen Büros der sinnlose Versuch, doch noch alles zu erledigen, was seit Januar vertrödelt worden war. Nicht nur auf auf Autobahnen, sondern jetzt auch in den Innenstädten lebensgefährliche Drängelei und Schlängelei. Selbst die Hausfrauen, sonst so besonnen, wollen unbedingt bei Ebay und Amazon noch alles  bestellen, was sie sinnvollerweise das ganze Jahr über nicht bestellt haben. Schlimmer: das alles muss noch vor Weihnachten gefahren und geliefert werden. Ein ganzes Volk, das die christliche Weihnachtshoffnung  – „O du Fröhliche“ - verloren hat, verfällt jetzt zum Fest einer freudlosen neuheidnischen Endzeit-Hysterie.

Und wir Christ*innen? Die evangelische Kirche, sie allein, tut etwas dagegen. Mit der Drosselung ihrer Dienstfahrzeuge auf 100 km/h hält sie den hysterisch entfesselten Verkehr auf den Autobahnen mutig auf. Mit 80km/h blockiert sie die Landstrassen.  Dem mit Klebstoff bewaffneten Arm der evangelischen Kirche gelingt es sogar, ganze Flughäfen ruhigzustellen. Ein paar Stunden jedenfalls.

Aber reicht das? Ich denke an die prophetische Tat meines protestantischen Jugendfreundes in Hannover. Öko war das vor der Zeit. Den ganzen Dezember über nichts tun! Dabei hätte die evangelische Kirche doch die Möglichkeit, alle ihre 240.000 Mitarbeiter*innen im Dezember in den Zwangsurlaub zu schicken.   Viel sinnloser religiöser Betrieb  fände so nicht statt. Ganz viel Energie – spirituelle und fossile Energie - würde so gespart. Um unserem russischen Feind zuleide noch mehr Energie zu sparen, wäre es leicht  möglich, auch die besonders energieintensiven evangelischen Weihnachtsgottesdienste jetzt schon zu stornieren.

Nur wenigen würde etwas fehlen.